Abgesägte Kindheit

 

 

Die Nachbarn haben am Freitag meine Kindheit abgesägt. Und die meiner Mutter auch gleich noch mit. Also genau genommen, die meiner Mutter zuerst, da sie ja irgendwie schon vor mir da war, man beachte die biologische Reihenfolge.

Wir mögen uns, die Nachbarn und wir. Ich denke, wir halten uns wechselseitig für im Grunde eigenartig, aber das haben wir gut hinbekommen, es in unseren Alltag über den Gartenzaun hinweg zu integrieren. Wir sind in dem Alter, in dem wir es zumeist schaffen, zu akzeptieren, dass jeder eine andere Meise kultiviert. Wenn sie von friedfertiger Natur ist und nicht im Laufe der Jahre doch noch zu einem Raubvogel mutiert, trägt das zuweilen groteske Züge, die letzten Endes dennoch recht unterhaltsam sein können.

Die Kindheit liegt seit ein paar Tagen in wüsten Haufen im Nachbargrundstück und streckt ihr Arme himmelwärts.

Ob das mit dem Mögen jetzt immer noch so ist oder ob ich die Zeitform von derzeit noch Gegenwart in Imperfekt, sprich erste Vergangenheit, im Futur 1 absehbar ändern muss, bleibt abzuwarten.

 

Rückblick

Im Spätherbst verabschieden wir uns in unsere Häuser. Dann liegen die riesigen Grundstücke dazwischen brach oder manches auch bracher. Sie gehören dann der Natur, so fast ausschließlich. Wir blicken aus unseren Fenstern. Manchmal, kurz vor Weihnachten, rufen wir uns an, schicken wechselseitig Grüße und wünschen uns frohe Feiertage. Die Kinder kommen, wie schön. Dann kommen ein Ende, ein Knacken und ein Rauschen in der Leitung, Silvester, das neue Jahr und irgendwie vergehen Januar und Februar immer schneller als der Rest des Jahres. Ostern steht vor der Tür und wir in unseren Gummistiefeln, dabei war es doch gerade erst November, vor uns die Schubkarren, in unseren Gärten. Dann winken wir wieder analog über die morsche Grenze hinüber und das Rauschen bleibt den Sommer über in der Leitung und der Telefonanbieter hat freie Kapazitäten oder verlegt Glasfaser vor unseren Türen. Das bringt die Welt auf die Bildschirme unserer abgeschiedenen Landstriche und macht die reale Welt darunter noch ein bisschen fremder.

 

Immer im späten Frühling fiel der erste Schnee des Jahres über dem Zaun vom Himmel. Manchmal fuhr ein Windstoß hinein und verwirbelte die weiße Pracht. Wir fanden sie noch Tage später, zwischen sprießenden Sommerstauden und auf den schweren Blättern der silbrig-blauen Rhododendron-Büsche, deren Äste sich blütenschwer bogen. Auf dem Gartenweg verklebte der Schnee zu kleinen braunen Schollen, über die wir leichtfüßig hinweg gingen. Irgendwann holte meiner Mutter den Rechen aus dem Schuppen dahinter, am Ende des Weges. Dort nahm sie ihn von einem Haken an der Wand. Manchmal fluchte sie dabei leise vor sich hin, ich lachte vom Fenster aus, der Schnee lag jetzt in wenig ansehnlichen Bergen zusammengefegt vor ihr auf dem Weg, und über uns ein magisches Rauschen, so beruhigend, dass ich zuweilen einfach ein bisschen länger stehen blieb, die Augen geschlossen. Tausende Bienen im tiefblauen Himmel über mir. Darunter riesige Kronen, übervoll mit duftenden Blütentrauben, die einen betörenden Duft zu Zeiten bis über das eiserne Tor, hinaus auf die Straße, verströmten. Sie schienen für kurze Zeit selbst den Abgasgeruch vorüberfahrender Autos zu vertreiben.

 

Nicht lange, nachdem die weiße Pracht verschwunden war, warf die Natur sich ihr Sommerkleid über. Abermillionen kleiner runder Blätter, die unserem Haus in heißen Tagen Schatten spendeten. Dazwischen am Morgen die Vögel. Die ersten Stare, wenn sie zurückkehrten, schwarzes Gefieder, silbern glänzend. Auf einmal waren sie da und saßen uns gegenüber, wir die Kaffeetassen am Morgen in den Händen darunter. Ach guck.

 

Seit Freitag liegen im Garten gegenüber acht Baumleichen. Der Angst zum Opfer gefallen. Mein Vater schickt mir die Bilder vom letzten und vorletzten Jahr. Ich bin gerade nicht da und denke Hambacher Forst. Nur dass es hier noch sinnloser ist. Aber dafür ist es jetzt auch zu spät. Vier Jahreszeiten, vier Bilder von bizarrer Schönheit bis hin zu einer Magie, die ein Stück Urwald auf kleinster Fläche erahnen lässt. Acht Bäume, einige davon fast hundert Jahre alt, darunter die nächste Generation, noch im Werden. Meine Mutter lief, damals als Kind, unter ihnen hindurch, später ich und noch später meine eigene Tochter. Dann kam die Säge, am ersten Freitag im April. Am ersten April. Leider kein Scherz. Die restlichen Umstände, die in einem Ausmaß grotesk sind, haben an dieser Stelle nichts verloren. Dafür an anderer.

 

Die beiden Altvorderen sind fassungslos. Ich bin es nicht minder.

Ihr Blick fällt jetzt ungefiltert auf die kasachische Steppenlandschaft gegenüber, im Sommer ein undurchdringliches Dickicht von Quecken und wilden Brombeeren, die von dort aus die Welt erobern. In der Steppe jetzt zusätzlich tiefe Fahrrinnen, die bleiben werden. Ewige Erinnerung hinterlassener Spuren am Tatort. Der Nährboden Überforderung und Angst, in wenigen Teilen das Alter. Dazwischen läuft gebückt die Nachbarin und schneidet mit einem kleinen Amboss winzige Äste in noch winzigere Aststücken. Dann verschwindet sie wieder. Das Haus verschluckt sie ins Innere.

Hinter dem Zaun: die Zeugen. Baumscheiben wenige Zentimeter hoch, die in der Frühlingssonne hell zu uns herüber strahlen.

 

Die Nachbarin atmet auf, in ihrer Küche zweihundert Meter weiter drüben, dazwischen Kasachstan – Halbwüste, die Gefahr ist gebannt. Das Amt hat die Genehmigung erteilt, zum Glück bürgerfreundlich und vollkommen unbürokratisch. Der Gang nach draußen, überflüssig. Was Angst macht, muss weg. Es könnte ja… Der Deutsche und die Versicherungslage und die eigene Bequemlichkeit und die Überforderung an und für sich und sowieso ist es von allem zu viel und die Furcht etwas verantworten zu müssen, der Weg des geringsten Widerstandes ist immer der kürzeste, jeglicher Weitblick prallt an den Bürowänden zurück und zerfällt zu sich auflösendem Staub. Leise flirrt er im Licht und setzt sich hämisch über die Akten. Dort wischt ihn jemand mit flüchtiger Bewegung beiseite und macht Mittagspause und später weiter. Ich weiß nicht, was besser ist. Ganz ehrlich.

Und überhaupt ist das alles nicht mehr schaffbar.

Und wie hoch ist eigentlich der Tarif für die Versicherung, die das mögliche Risiko abdeckt? Hoffentlich greift sie dann auch, sonst sind wir am Arsch.

Risikominimierung. Aber das konnte ich nicht wissen. War ja nur gut gemeint. Das hat man nun davon. Hätten wir die Nachbarn vielleicht am Ende doch fragen müssen?

 

Im Grunde ist alles egal. Die ausführende Firma stellt derweil die Rechnung. Drei Stunden Arbeit, die haben sich gelohnt – Freitag früher Nachmittag – schönes Wochenende. Ach, es war gar nicht mehr Ende Februar? Guck an.

In meinem Keller, zwischen der Bruchsteinmauer, erzählen die feinen Wurzelenden Geschichten.

 

Seit gestern erwäge ich ein Obstspalier, ein langes, Sonne haben wir ja jetzt reichlich. An ihm könnten die Früchte der Verzweiflung über meine Artgenossen wachsen. Ich ahne eine ertragreiche Ernte. Zudem würde es die Sicht auf die Wüste zumindest mildern. Aprikosen, denke ich, und Birnen. S. sagt, Robinienholz mache sich da gut, und ich sage, ich will aber kein Spalier aus Leichenteilen.

 

Im Baumarkt sind Thujas im Angebot, Lebensbäume, hinter denen wir unsere Leben, vor denen der anderen, verstecken können. Manchmal werden die Thujas im Laufe der Jahre sogar zweifarbig, die unteren vier Meter braun, die Spitze nach oben, zwei weitere Meter in dunklem Grün, ein zwölf Monate im Jahr undurchdringliches Dickicht. Zeitgeistbäume einer immer bequemer werdenden Gesellschaft, unter denen wegen ihrer Trockenheit kein Leben gedeihen kann. Keine Igel, keine Regenwürmer, nur ganz viel Nichts, prasselnde braune Nadeln, die sich nicht zersetzen, nur böse knacken, wenn man darüber läuft. Damit passen sie gut in unsere Gegend, deren Ödnis im Großen sowie im Kleinen immer schneller Gestalt annimmt.

 

Derweilen googele ich mögliche Förderprojekte für Verstand und Weitsicht. Das Internet beantwortet meine Anfrage mit Leider Null Treffer. Und ich denke, dann können wir uns jegliches anderes gleich mit sparen.

 

Hinter der dichten Hecke sitzt eine junge Mutter, das Kind auf ihrem Schoß, in den Händen ein Bilderbuch. Darin ein Igel. Die lebten hier früher, auch Vögel gab es einmal, aber das ist lange her. Sicher der Klimawandel. Da kann man nichts machen. Das ist alles sehr, sehr schade. Die müssten mal …

Eine verirrte Biene summt leise, findet nichts und sucht den Ausgang.

Das Buch klappt zu. Sie müssen noch einmal los zum Einkaufsmarkt, gleich um die Ecke. Honig kaufen und Äpfel. Honig wird gerade knapp, wie so vieles anderes. Das gibt es doch nicht. Und teuer ist das ganze Zeug. Der Honig kommt aus der Ukraine. Sagt die Tageszeitung. Decken sie sich lieber mit ein paar Gläsern ein. Man weiß ja nie. Das versteht wirklich kein Mensch und das Obst, hast du den Preis gesehen … ach und guck, die haben Lebensbäume im Angebot. Und hinten an der Mauer liegt immer noch das Laub von dem Scheiß-Obstbaum der Nachbarn. Das geht so überhaupt nicht, der soll den gefälligst wegmachen. Da klingeln wir dann gleich noch, wenn wir wieder zu Hause sind. Oh wie schön, die Äpfel sind sogar Bio aus Spanien. Aber warum die keine Folie drum machen, verstehe ich nun wirklich nicht. Muss ja nun nicht jeder antatschen und außerdem kann man die doch viel besser wegnehmen.

Alles gut in unserem Land?

 

 

Vielleicht pflanze ich im Herbst Robinien. Es gibt bestimmt noch einen Platz, irgendwo im Garten. Und vielleicht blicken meine Urenkel irgendwann in ihre blühenden Kronen und schließen die Augen, bei deren himmlischem Duft, und bleiben, noch für einen winzigen Moment länger, darunter stehen.