Tag 79 - Die Frage danach, wo man eigentlich hingehört

Seit Tagen versuche ich für mich, meinen Zustand zu definieren.

Dies ist ein allererster Schritt, um vielleicht einem Dritten – einem Außenstehenden – zu erklären,

wie es sich anfühlt, in Tag 79 zu leben.

Meist beginnt es am Morgen mit dem Aufklappen des Laptops und dem Hochfahren des Gerätes. In der Zwischenzeit beginnt das Wasser für den ersten morgendlichen Tee ganz langsam zu kochen.

Das sind meine derzeitigen Rituale – feste Größen in einer Welt, die für mich persönlich an Bestand verloren hat, im Augenblick zumindest. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich an Sicherheit verloren habe. Diese war auch zuvor schon lange kein Bestandteil meines Lebens mehr.

Die Sicherheit hatte ich vor vielen Jahren mit dem Erfüllen meines Traumes zurückgelassen.

Ich hatte sie eingetauscht gegen endlose Freiheit in meinen Entscheidungen.

Sie, ohne die viele von uns vermeintlich nicht zu leben vermögen, war mir zur Last geworden.

Sie engte mich ein.

Sie behinderte mich geradezu. Vor allem hinderte sie mich am freien Denken.

Solange man sich in einer Hierarchie bewegt, eingezwängt in Grenzen, welche diese unvermeidlich mit sich bringt, bleibt einem (fast) nichts anderes übrig, als sich irgendwann – nahezu unweigerlich – dieser Umgebung anzupassen. Schafft man das nicht und hinterfragt Abläufe, Dinge und Strukturen, gerät man sehr schnell an einen Punkt, der einen zwangsläufig vor die Entscheidung „Gehen oder Bleiben“ stellt.

Man lässt die Sicherheit hauptsächlich in Form einer immer wiederkehrenden monatlichen

Entlohnung zurück, welche ich für mich spätestens in den letzten beiden Jahren meiner Anstellung als eine Art Schmerzensgeld deklarierte.

Zu häufig ploppte in meinem Kopf die Frage nach dem „Warum?“ und nach dem

“Was tue ich hier eigentlich?“ auf.

Ich hatte keine Lust mehr auf ein gesellschaftliches Jammertal, das bildlich betrachtet mit Seilen und aller Art an Sicherungen versehen war, sodass ein Absturz nahezu unmöglich sein musste.

Allerdings geben genau diese Dinge eben auch einen klar festgelegten Weg vor, den man von einem Punkt bis zum nächsten in diesen eingetretenen Pfaden zu Ende gehen muss.

Muss man wirklich? Oder inwieweit lässt uns nur die Angst vor dem Leben daran festhalten?

Man sieht ein Ziel und die Erwägung, es anders zu erreichen, stellt keine Möglichkeit dar.

Die Wege bieten keine Alternativlösungen an.

Sie sind ein klares Gesetz.

Es würde sicher auch nicht funktionieren, wenn man – um in Bildern zu bleiben – unbekannte Umwege einschlägt, wenn man einer Gruppe angehört, die nur in dieser Dynamik

funktionieren kann. Ich möchte offen lassen, was „funktionieren“ hier für mich bedeutet.

Man könnte dabei eine Lawine auslösen, Schäden verursachen.

 

Oft habe ich mir aber auch die Frage gestellt, was man dabei alles entdecken würde, wie viel Neuland auf diese Weise einfach unbetreten vorüberzieht und was sich vielleicht auch – unter den gelösten oberen Schichten – noch verbirgt, wenn die Steinlawine im Tal liegt und sich der damit verbundene Nebel wieder aufgelöst hat.

Was könnte man freilegen?

Und will das überhaupt jemand, etwas freilegen?

Wie viele verpasste Chancen stehen am Ende, deren Existenz wir im Nachhinein,

wohl zum Glück, nicht einmal erahnen.

Aber all das scheint nur auf eigenes Risiko zu funktionieren.

Der Verzicht auf die Sicherheit stellte für mich einen Gewinn an Freiheit dar.

Das ist der Preis.

 

Jetzt, nach fast siebzehn Jahren, stehe ich das erste Mal an einem Punkt, an dem ich das Gefühl habe, dass mein Leben mir gerade aus den Händen gleitet.

Es sind die täglichen Routinen, die verloren gehen.

Ich habe Zeit.

Ich ziehe rückblickend Bilanz; „Zwischenbilanz“ trifft es in meinem Alter vielleicht ganz gut.

Ich höre Freunde die Frage stellen, ob ich unter heutigen Bedingungen diesen Weg noch einmal gehen würde – mit dem Wissen darum, wohin dieser führen kann, wenn ein klares Sperrschild dich über eine Umleitung in eine Haarnadelkurve führt, die nach vorn zu immer schmaler wird und du von Beginn an genau weißt, dass du die Gefahr, darin stecken zu bleiben, für dich nicht ausschließen kannst.

Du weißt genau, dass du dich freiwillig dort nie hineinbegeben hättest.

Aber eine Absperrung auf deinem Weg, in Verbindung mit einer Umleitung, die mit einem Zwangspfeil versehen ist, führt dich unweigerlich dort hinein.

Stehen bleiben, aussteigen, alles zurücklassen wäre die Möglichkeit, die bleibt.

Du weißt, dass es gerade keine andere Alternative gibt.

Ich denke, ich spreche hier sinnbildlich für viele, die in irgendeiner Form von dieser Situation betroffen sind.

Ich stelle mir, wie sicher viele andere, die Frage nach einer Verhältnismäßigkeit der Dinge, die uns in den vergangenen drei Monaten ereilt haben – ungefragt ereilt haben.

Wie viele Brüche in Lebensläufen sind hierbei entstanden?

Brüche, die vielleicht kaum mehr reparabel sein werden, weil die Decke zuvor schon viel zu dünn war, egal welchen Bereich des menschlichen Daseins man hierbei betrachtet.

Der Möglichkeiten gibt es nahezu endlose.

Wie breit ist das tatsächliche Spektrum möglicher Folgeschäden?

Es kann immer nur ein Versuch sein, die direkte Verbindung zwischen dem, was als Ursache zu Grunde liegen könnte und dem, was als Folge daraus entstehen kann, zu ziehen.

Es wird keine klaren Linien dabei geben, nur Tendenzen, Parallelen, Vermutungen.

Es wird die Sichtweise der Befürworter auf die Sichtweise der Zweifler treffen.

Es wird selbst die Wissenschaft unterschiedliche Thesen vertreten.

Es wird nie etwas Absolutes dabei geben können, ein Gesetz, das besagt,

nur so war oder ist das Geschehene richtig.

Es wird etwas auf der Gegenseite dieser „Bilanz“ stehen und die Frage wird offen bleiben, ob hier noch eine Verhältnismäßigkeit zwischen diesen beiden Seiten gegeben ist.

 

„Aber was macht das Ganze mit uns?“

Das ist der Satz einer besten Freundin, den sie von Beginn an in dieser Situation

bei nahezu jeder Begegnung mantraartig wiederholte.

Ich versuche hieraus gerade eine Erklärung für mich persönlich zu finden.

Wie weit reicht unsere eigene Manipulierbarkeit?

Wie weit sind wir hörig und wann hören wir damit auf frei zu denken?

In welchem Maße zeigen sich Charakterzüge von uns Menschen – auf einmal

nicht mehr zu übersehen – deutlich an unserer Oberfläche?

In einer Extremsituation werden sie plötzlich sichtbar.

Wie hat es Freundschaften zersprengt oder noch viel enger zusammengeschweißt?

Wie schnell werden wir in Zukunft gerade gewonnene An- oder Einsichten wieder über Bord werfen – als lästige Erkenntnis, die schon zu unbequem ist, bevor wir auch nur den Versuch unternommen haben,

uns auf längere Zeit damit anzufreunden?

Was ist tatsächlich notwendig? Und wo beginnt er, der Überfluss?

Welchen Anspruch an Dinge, den wir für uns mit Selbstverständnis erheben, haben wir tatsächlich?

Woraus entsteht dieser Anspruch?

Wie hoch ist unsere ureigene Toleranz?

Wie tief ist der Graben zwischen Mäßigung und Dekadenz?

 

Es sind elementare Fragen, die ich mir im Augenblick stelle.

Das bringt wohl der Überschuss an Zeit einfach so mit sich.

Es ist nicht die Angst vor einer Zukunft.

Oft habe ich zu mir oder auch zu anderen in den vergangenen Monaten gesagt, dass das, was wir gerade erlebt haben, was hoffentlich einem absehbaren Ende entgegengeht, in unserem Lande – trotz allem – in einem Zustand von geradezu Luxus stattfindet.

 

Es ist mehr die Frage, was davon bleibt.

Ich befürchte oder denke einfach nur – weil „befürchten“ gibt ja bereits wieder eine Richtung vor –, dass wir nicht mehr dieselben sein werden in der Zeit, die wir als das Danach bezeichnen.

 

Ich war vor einer Woche endlich wieder im Kino. Diese haben in Sachsen zum Teil wieder geöffnet.

Mir fehlte die Leichtigkeit.

Der Unterton des Filmes war ein einziges „Ich will hier weg“.

Es fühlte sich nicht stimmig an.

Wie kann etwas in so kurzer Zeit fremd werden?

Das, was zuvor keiner Überlegung bedurfte?

Wann wird was wieder normal sein?

Und was bedeutet es dann, dieses „normal“?

 

Sicher denke ich auch über meinen eigenen kleinen Kosmos in Form meines Geschäftes nach.

Ich bin dabei, einen Zeitpunkt für die Wiedereröffnung zu erwägen und das

nicht zuletzt aus dem Grund, die Dinge ansonsten weiter von allen Seiten zu beleuchten.

 

Das Übermaß an Zeit, die wir uns immer so sehr wünschen, wenn sie gerade ein so rares Gut ist, angefüllt mit…

 

Vielleicht ist es am Ende auch einfach nur die Frage „Welchen Kuchen backe ich heute?“,

die unserem Leben eine gewisse Beständigkeit verleiht?

Die darin schon die Antwort enthält, für den Sinn, den wir diesem Gefüge verleihen können,

mit dem, was wir alltäglich tun.