Tag 65 - Ach, Sie haben geschlossen?

Etwas mehr als zwei Monate sind nun schon vergangen, seitdem mein bis dahin recht klares und

strukturiertes Leben über Nacht aus den Angeln kippte. Seitdem ist nicht mehr allzu viel so, wie es einmal war.

 

Der Alltag ist auseinandergebrochen, der Verdienst seit Mitte März mit Null zu beschreiben.

Ich habe Zeit gewonnen, endlose Zeit, die ich mir immer einmal wieder gewünscht habe in den vergangenen Jahren, welche manchmal gefühlt einfach an mir vorbeizogen.

Es war so, als ob ich im Schnellzug durch das Land flog, die Momentaufnahmen hinter dem Fenster,  nur eine Sekunde – nicht greifbar.

Immer dann, wenn mich ein Bild zum Verweilen einlud, war es auch schon wieder fort.

Es blieb eine Sehnsucht.

 

Sprache ist meine Passion.

Es sind Worte, die das Leben beschreiben.

Das Leben in all seinen Facetten, manchmal wild und bunt, oft aber auch nachdenklich und sehr, sehr leise. Worte als Spielbälle, welche sich oftmals einen leichtfüßigen Schlagabtausch geben.

Worte, die eine Verbindung knüpfen zwischen unterschiedlichen Menschen.

Sie sind ein nicht unerheblicher Teil dessen, womit ich mein Leben bestreite.

Sie sind nebensächliches Beiwerk und nicht wegzudenkende Grundlage in Einem.

In den letzten Tagen und Wochen allerdings finde ich mich vermehrt in Situationen wieder, welche mich sprachlos machen.

Ich reagiere – aber das ist wohl mehr ein Reflex als eine tatsächliche Antwort.

 

 

So gestern geschehen, am Freitag nach Christi Himmelfahrt, beim morgendlichen Einkauf in unserem Wohngebiets-Supermarkt: vor der Kühltheke ein undeutliches Gespräch – ein wenig verkrampft hinter zwei Mund-Nasen-Bedeckungen hervor, eine nicht mehr ganz junge Frau, Kundschaft unseres Cafés, seit vielen Jahren, in größeren Abständen, eigentlich sympathisch – ein bisschen weltfremd im Grundton.

Letzteres passt ganz gut zu mir.

 

Auch ich lasse die Welt ganz gern draußen, wenn ich das Gefühl habe, dass sie mich einnimmt,

mir zu viel wird.

Gespräche auf Abstand und ohne wahrnehmbaren Gesichtsausdruck sind anstrengend.

Es ist so, als ob selbst die möglichen Themen im Stoff der Maske einfach steckenbleiben,

sich verfangen im Gewebe und dabei an Bedeutung verlieren.

Wir verabschieden uns nach dem Austausch einiger recht gezwungen erscheinender Höflichkeiten.

Die sonstige Lockerheit will nicht aufkommen.

Draußen, vor der Rückgabestation des aktuellen Kundenzählmittels Einkaufswagen, holt sie mich plötzlich wieder ein.

Sie entledigt sich mit sicherem Griff des Stoffteiles in ihrem Gesicht. Meines ist bereits unter Ignorieren aller Hygiene-Maßnahmen zusammengeknüllt in der Jackentasche verschwunden.

"Jetzt können wir uns unterhalten. Unter der Maske fällt mir das Atmen unglaublich schwer. Es ist anstrengend. Ein Gespräch macht unter diesen Bedingungen keinen Spaß", spricht sie.

Kurze Freude meinerseits, welche schon nach den nächsten Sätzen einer Schockstarre weicht.

"Wie geht es Ihnen? Und bei Ihnen ist bestimmt alles soweit gut, alles wie immer!?

Na ja, Sie machen das schon in Ihrem Café."

„Mein Café ist seit knapp zehn Wochen geschlossen", höre ich mich entgegnen. Tonlos.

Ich weiß nicht, wie viele Sekunden vergehen, bis ich diese Antwort, in einem Zustand von Fassungslosigkeit und in leicht brüskiertem Ton, hervorbringe.

„Weltfremd, weltfremd, weltfremd…“, höre ich mich denken.

 

Fassungslosigkeit, jetzt auch auf der Gegenseite. „Ach so, Sie haben zu!?“ Stille danach.

Uns beiden scheint die Abstrusität dieser Situation, in welcher wir uns gerade befinden, überdeutlich bewusst zu sein. Wir beenden das Gespräch recht abrupt mit höflichen Floskeln zum Abschied.

Die Skurrilität des Ganzen legt sich wie ein Schleier über meinen gerade beginnenden Tag.

Oft fühlt es sich so an, als ob die am Morgen gestellten Weichen die Richtung für die nachfolgenden Stunden und darin eingebetteten Ereignisse vorgeben würden.

 

Die Fortsetzung folgt im Laufe des Vormittages, nahezu unweigerlich.

 

Gedankenverloren stehe ich circa zwei Stunden später mitten auf dem Marktplatz vor dem Zeitungsgeschäft mit seit einiger Zeit integrierter Poststelle.

Ich unternehme einen zweiten Versuch in dieser Woche, ein Heft zu erwerben,

welches eigentlich schon am Donnerstag im Zeitungsregal hätte liegen sollen.

„Egal, ich habe ja Zeit“, denke ich mir und versuche es erneut.

Seit Mitte März sieht man die Kundschaft, wie sie sich in lockerer Formation über den Bürgersteig vor dem Geschäft – auf der einen Seite in Richtung Apotheke, auf der anderen Seite in Richtung Blumenladen – verteilt.

Heute stehe ich allein. Zwei Menschen sehe ich durch die dank frühsommerlichem Wetter geöffnete Tür im Inneren des Ladens.

 

Den Mann, welcher gerade im Begriff ist das Geschäft zu verlassen, identifiziere ich hinter seiner Gesichts-Verhüllung als Kundschaft.

Auch er erkennt mich, trotz Vermummung.

Erfreut tritt er auf mich zu. „Oh, schön dass ich Sie hier sehe! Geht denn unsere Bestellung für den Juni in Ordnung? Sie dürfen doch jetzt wieder…“

„Ich beabsichtige noch nicht wieder zu öffnen, zumindest noch nicht im Juni.

Diesen werden wir wohl unter den jetzigen Voraussetzungen noch geschlossen halten,

freiwillig. Es bringt für uns nichts, so wie es derzeit möglich wäre, wieder aufzuschließen.

Ich möchte es nicht mehr in ewigen Sätzen kommunizieren.

Schauen sie doch auf unsere Internetseite. Dort findet sich eine lange Erklärung unserer derzeitigen Situation.“

Er schaut mich an. Fragend. „Ach so, ja – mache ich.“

 

Der Blick von außen sieht nur die Möglichkeit.

Selten nur gelingt es, auch die Schattenseiten zu erfassen, das was sich dahinter verbirgt.

Die Unwägbarkeiten, welche mit dem Zuschieben der letztendlichen Verantwortung

einhergehen, für den, der sie am Ende umzusetzen hat.

 

Ich stocke, betrachte den Mann, sehe das Bild vor mir: ihn und seine ehemaligen Klassenkameraden. Schulfreunde im Rentenalter, welche sich mit schöner Regelmäßigkeit ein paar Mal im Jahr bei uns einfinden – zehn bis zwölf Menschen an einem Tisch.

Menschen, die sich treffen, um miteinander zu reden, über ihre Schulzeit, über ihren Alltag.

Sie sprechen über ihre Familien und über Begebenheiten.

Wir sind der Ort, welcher den Rahmen gibt für die Gespräche.

Ich möchte fast meinen, Café & Kuchen sind Nebensache, eine schöne zwar, aber es geht vordergründig um das gemeinsame Verweben von Erinnerungen.

 

Das Projizieren dieser Situation verbindet das Gewesene unweigerlich mit dem jetzt Möglichen.

„Sie sind immer zehn oder zwölf Personen.“ Ich halte inne.

„Ich kann Sie nicht an einen Tisch setzen. Das darf ich nicht. Das Ehepaar aus BK, ja das geht – ein Haushalt, da darf noch jemand mit dazu, alle anderen dürfen nur zu zweit.

Das macht in der Summe fünf Tische, auf welche ich Sie verteilen muss. Einer davon steht im Wintergarten. Wollen sie das?“

 

Vier Tische habe ich insgesamt noch zur Verfügung – nach dem Kahlschlag der Branchenregelung, nach dem Einhalten von Mindestabständen, nach allem, was noch an Anforderungen und Bestimmungen daran hängt.

 

Ich weiß nicht, ob andere sich darüber hinwegsetzen, ob sie das Risiko in Kauf nehmen, für einen Bruchteil ihres vormaligen Umsatzes Bußgelder zu bezahlen, weil sie Maßnahmen nicht umsetzen wollen oder können. Maßnahmen, die ihnen – verpackt im Schutzmantel der Eigenverantwortung – durch ihre Umsetzung die Lebensgrundlage nicht gewährleisten können oder diese sogar entziehen.

 

Ich habe mitten in diesem lichtdurchfluteten, sommerlichen Tag zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl festzustecken.

Ich denke, am Ende dieser Geschichte bleiben uns weniger Antworten als offene Fragen.

Ganz besonders wird es die Frage nach der Sinnhaftigkeit sein.

Die Frage nach dem, was hier seit Monaten geschieht und um welchen Preis es geschieht.

 

Seit einiger Zeit lebe ich mit einer Textzeile von Felix Meyer – diesem großartigen Poeten –, welche unseren Zustand nicht treffender beschreiben könnte, auch wenn der Inhalt dieses Liedes im Grunde eine andere Lebenssituation spiegelt.

„Fahre freihändig bei Rot über eine Ampel und probier

dich dabei umzusehn und die Idee nicht zu verliern…“

 

Ich möchte mich auf den Tag freuen, wenn es wieder aus den Lautsprechern im Café erklingt, untergehend im Stimmengewirr und dem Klirren des Geschirrs an den voll besetzten Tischen,

als ein Hintergrund, in welchen hinein ein Gast fragen wird „Wer singt da gerade eben…?“.

 

Aber im Augenblick weiß ich noch nicht, wie weit wir noch zählen werden. Siebenundsechzig, achtundsechzig, neunundsechzig…